Es knackt
Es knackt
Simon Libsig wundert durch den Wald
Manchmal muss ich auf die Runde. Muss förmlich. Sonst explodiert mein Kopf oder mein Herz quillt über oder meine Augen, dann brauche ich Luft, muss mich bewegen, einen Schritt vor den anderen, tiefe Atemzüge, ein Mantra murmelnd, nur bitte keinen Gedanken, keine Gedanken, und schon gar keine Panik. Zum Glück wohne ich so nahe am Wald. Der Wald hat mich schon so oft gerettet. Getröstet. Zurück gebracht. Zu mir.
Ich laufe also meine Runde, und ich meine jetzt nicht joggen, ich jogge nicht gerne, nein, ich wundere, jawohl, ich wundere durch den Wald, hoch zur Baldegg. Ich wähle die grosse Runde, denn es läuft gerade viel zu viel. Hochwasser, Dämme brechen, Pager detonieren, Walkie-Talkies, die Welt brennt. Sogar bei uns in Baden wurde eben erst geschossen. Was isch gopfertellinomol los?
Ich sehe Blätter, Zweige, Baumrinden, Brennnesseln, ich höre die Natur, es ist nass, alles tropft, ich friere, zittere, mache mir Sorgen um die Zukunft, meine Turnschuhe sinken ein.
Der Weg führt an mindestens zwei Bunkern vorbei. Es sind sicher noch mehr, aber ich habe mich nie geachtet. Graffiti und Spinnweben überzogene Relikte. Als Kind hätte ich garantiert einen Eingang gesucht, es wäre unser Hauptquartier geworden, unsere Burg oder Ranch, je nach Spiel, je nach dem, was wir gerade sein wollten. Heute bin ich ängstlich. Wie ein Reh, denke ich noch. Als es knackt. Und wie aus dem Nichts, eines vor mir steht. Es sprang direkt vor mir auf den Weg, ich kann es immer noch nicht glauben, ein Reh. Mein erstes Reh. Ich habe noch nie ein Reh aus solcher Nähe gesehen. Wie gross so ein Reh ist. Und es wirkte ganz und gar nicht ängstlich. Ich meine sogar, es kaute an irgendetwas herum, vielleicht noch ein Hämpfeli Gras zwischen den Zähnen, als würde es entspannt Kaugummi kauen, so sah es für mich aus. Das Reh blickte mich an. Dann verschwand es auf der anderen Seite in den Wald hinein. So schnell ging das. Aber die Begegnung hallt immer noch in mir nach. Wenn ich die Augen schliesse, sehe ich das Reh noch. Ein entspanntes, Kaugummi kauendes Reh. Ich halte es fest.
Ob er auch einen Kaugummi haben dürfe, fragte mich unser ältere Sohn nach meinem Wald-Bericht. Derweil schlüpfte der jüngere bereits in sein Ninja-Kostüm und steckte ein paar Wurfsterne ein. Garantiert habe sich der Feind in diesem Bunker verschanzt. Und meine Frau meinte bloss: «Die Wildsaison ist damit nun hoffentlich ein für alle Mal vom Tisch.»
Ich bin froh um diese Runde. Sie führt mich immer wieder zurück. Ich fasse neuen Mut und fühle mich, dieses Mal ganz besonders, wie frisch Reh-noviert.
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