Geht der Blick auf das Gemeinwohl verloren?
Unsere Gesellschaft verändert sich in rasantem Tempo. Es gibt langfristige Trends, sogenannte Megatrends, die sich beobachten lassen. Lebensformen und Familienmodelle ändern sich. Vieles, was vor 30 oder 40 Jahren noch undenkbar war, ist plötzlich selbstverständlich. Die Individualisierung prägt unser Leben, gesellschaftlichen Zwänge sind kaum noch vorhanden. Das hat etwas sehr Befreiendes. Wir können unser Leben in vielen Bereichen so gestalten, wie wir möchten. Wir müssen nicht den gleichen Beruf ergreifen wie die Eltern, um die Firma zu übernehmen, die unsere Eltern oder Grosseltern aufgebaut haben. Wir werden nicht schräg angeschaut, wenn wir nicht heiraten, wenn wir keine Kinder haben und wenn doch, können wir zügeln wohin wir wollen. Wir können unsere Religion frei wählen oder auch darauf verzichten und für die soziale Sicherheit sorgt der Staat. Unsere persönliche Freiheit ist viel grösser, als die der Generationen vor uns.
Die Redensart, dass alles zwei Seiten hat, stimmt aber aus meiner Sicht auch hier. Unsere Freiheiten führen dazu, dass wir sehr darauf achten, dass wir häufig nur das tun, was wir wollen und das, was uns nützt. Sind das die Ursachen dafür, dass immer weniger Menschen bereit sind, in der Gesellschaft längerfristig Verantwortung zu übernehmen? Die Mitgliedszahlen gehen fast überall zurück, sei es bei Chören, Musikgesellschaften, Schützenvereinen, Kleintierzüchtern, Parteien oder Gewerkschaften. Manche Vereine oder Verbände werden aufgelöst, weil zu wenige bereit sind, Vorstandsarbeit zu leisten. Auch Feuerwehren, Zivilschutzorganisationen und Gemeinderäte sind von dieser Entwicklung betroffen, ebenso wie die Landeskirchen. Dennoch erwarten wir nicht nur, dass die SBB pünktlich ist, die Briefe rechtzeitig zugestellt werden und der Kehricht immer am selben Tag abgeholt wird, sondern auch, dass die Feuerwehr kommt, wenn es brennt, die Behörden möglichst reibungslos ihre Aufgaben erfüllen und die Kirche im Dorf bleibt.
Aber eben: die Bereitschaft für ein längerfristiges Engagement nimmt ab. Gemeinden müssen über Fusionen nachdenken, weil die die Behörden nicht adäquat besetzt werden können, Kirchgemeinden kommen beim Unterhalt ihrer Immobilien an den Anschlag, weil immer weniger Menschen bereit sind, sie über die Kirchensteuer mitzufinanzieren, Feuerwehren werden zusammengelegt, weil sie ihren gesetzlichen Auftrag sonst nicht mehr erfüllen können. Für unser Land, in dem das Milizsystem eine der tragenden Säulen der Demokratie ist, ist dies besorgniserregend. Wenn jeder nur für sich schaut, wird es schwierig.
Ich meine auch in der Politik beobachten zu können, dass der Blick aufs Gemeinwohl verloren geht. In den Parlamenten, aber auch bei Volksabstimmungen, geht es mehr und mehr darum, wovon ich oder die Gruppe, deren Interesse ich vertrete, am meisten profitiert, statt um die Frage, was dem Gemeinwohl, der Gesellschaft als ganzes am besten dient. Ganz nach dem Motto: «Warum soll ich für den Bau eines neuen Schulhauses stimmen? Ich hab ja keine Kinder.» Und viele Medien rechnen den Leserinnen und Lesern bei Abstimmungen vor, wer von einem Entscheid profitiert und wer nicht, statt zu fragen, was für uns als Gemeinschaft sinnvoll ist und was nicht.
Wir Menschen sind soziale Wesen und damit darauf angewiesen, dass wir über unser eigenes Ich hinausdenken, unsere gewonnene Freiheit, die ich keinesfalls missen möchte, auch für andere einsetzen. Wir sind darauf angewiesen, dass wir aufeinander Rücksicht nehmen und notfalls jemand da ist, der uns zur Seite steht. Ich bin sicher, Sie gehören zu den Menschen, die das tun. Und falls nicht: Es ist nie zu spät damit anzufangen.
Lutz Fischer ist Pfarrer in der Reformierten Kirchgemeinde Wettingen-Neuenhof und
Politiker (EVP). Er ist seit 2019 Mitglied des Grossen Rats des Kantons Aargau.
Die Kolumne ist in der Winter Edition von LANDxSTADT erschienen.
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