«Gliter und Glamour beeindrucken mich wenig»
Sina ist wieder auf Tour, am 1. Dezember kommt sie mit ihrem neuen Programm nach Baden. Im
Interview spricht die 55-jährige Mundartsängerin über private Schätze im Keller, starke Stimmen
in Bulgarien und über das Engagement für einen Softporno.
Text: Stephan Santschi Bilder: Anouk van Oordt
Wie ist es für Sie, nach der langen Pause wieder auf der Bühne zu stehen?
Es ist ein lang ersehnter Neustart, bis Ende Dezember werden wir 20 Konzerte nachholen. Wir sind total happy, wieder unterwegs zu sein und auch freudig überrascht, dass die Menschen Billette kaufen. Es herrscht zwar noch Zurückhaltung, wieder in Menschenmengen zu gehen. Doch das Bedürfnis, Musik zu erleben, ist spürbar. Wenn sich die Leute im Publikum an den Händen nehmen oder wenn ihnen Tränen über die Gesichter laufen, sehe ich, dass sie die Musik aus tiefstem Herzen berührt. Kultur ist der Kit der Gesellschaft, den wir alle vermisst haben.
Was beinhaltet Ihr Programm «Mondnacht», das Sie schon im Herbst 2020 lancieren wollten?
Kurz zusammengefasst: Drei Leute auf der Bühne, zirka zehn Instrumente vom Schnurregigeli bis zum Kontrabass und ein Mann am Mischpult, der dafür sorgt, dass der Sound wohlig-warm herüberkommt und man meinen Dialekt versteht (lacht). Wir sind in den letzten 16 Monaten ausgebremst worden, haben unsere Energie aber doch noch bündeln können. Nun präsentieren wir mehr eigene Songs als ursprünglich geplant, diese gibt es allerdings nur live und nicht auf Tonträgern.
Im Hintergrund werden auf einer Leinwand verschiedene Heimatbilder und Kurzfilme gezeigt.
Mir gefällt dieses Multimediale, welches das Publikum auf einer weiteren Ebene durch den Abend führt. Ich filme selbst schon lange, einst im Super-8-Format, heute digital. Auf diese Weise kann ich musikalische Stimmungen intensivieren. Wenn die Zuhörer reinkommen, hole ich sie mit einem ersten Film in meine Welt, dann beginnt die Musik. Je grösser die Leinwand, umso stärker wirken die visuellen Eindrücke. Und darum freue ich mich vor allem über die Kinoleinwände (lacht).
«Wo Sina ist, geht der Mond auf», heisst es auf Ihrer Website. Was bedeutet das?
(lächelt). Der Mond hat mich bereits als Kind fasziniert. Ich habe Gesichter auf ihn gemalt, Geschichten erfunden. Für mich als melancholischen Menschen hat der Mond eine spezielle Anziehungskraft. Innert Kürze kann er seine Wirkung verändern, von romantisch zu fröhlich. Auch wir werden auf der Bühne für diese verschiedenen Stimmungen sorgen.
Sie ziehen Menschen auch als Geschichtenerzählerin in Ihren Bann. Wie beurteilen Sie Ihre persönliche Geschichte?
Mein Weg in der kleinen Music-Community der Schweiz war und ist genau der richtige. Ins Ausland haben mich vor allem Crossover-Projekte geführt. Für meine Musik war die Sprache ausschlaggebend und für «Wallisertitsch» ist der ausländische Markt doch etwas klein (lacht). Klar gab es auch das eine oder andere Erlebnis, das nicht nötig gewesen wäre. Geschadet hat es aber nicht, es sorgte eher dafür, dass mein Gespür für Entscheidungen und Menschen noch mehr geschärft wurde.
Was sprechen Sie konkret an?
Als blutjunge Sängerin, ohne klare Vision und unsicher, begegnete ich einem Manager, der mit selbstbewusstem Auftreten meine Karriere vorherzusehen glaubte. Er kam von einem kleinen Label, schickte mir einen Song und wollte mich damit für die Eurovision anmelden. Den mehrjährigen Vertrag, den er mir unter die Nase hielt, habe ich heute noch. Ob mir der Song gefiel, war nie ein Thema. Als ich nicht unterschrieb, machte er mir eine Szene und warf Stühle um. Ein anderes Mal folgte mir ein Studiobesitzer, der mich in Deutschland als Chorsängerin engagiert hat, bis vor mein Zimmer und klopfte minutenlang an die Türe. Und einmal wurde ich für einen Softporno gebucht.
Wie bitte?
Die Anfrage kam ganz unauffällig über mein Büro. Ich sollte den Titelsong in einem Kinofilm singen. Vor Ort erhielt ich ein Skript mit einschlägigem Wortlaut. Beim Vorlesen sollte ich langsam durch den Raum gehen, da hats bei mir klick gemacht. Gottseidank hat mich eine Freundin begleitet. Solche Geschichten haben mich gelehrt, Anfragen genau zu prüfen und auf mein inneres Gefühl zu hören.
Wann spürten Sie erstmals die Leidenschaft für Musik?
Bereits als ich fünf-, sechsjährig war, hat man mich an Hochzeiten auf den Tisch gestellt und ich habe ohne Scheu drauflos gesungen. Auf der Bühne war ich sicherer als daneben, in der Musik fand ich Freude und Sinnhaftigkeit. Schon in der Schule notierte ich den Berufswunsch Sängerin, dabei galt im Wallis ein Job im Spital oder bei der Lonza eher als sichere Sache. Während zehn Lehr- und Wanderjahren zwischen 17 und 27 arbeitete ich als Bankkauffrau und machte nebenher mässig erfolgreich Musik. Ich lernte die Spielregeln des Musikgeschäfts kennen und entschied mich, ein Teil davon zu werden. Was nicht heisst, dass ich nicht auch eine gute UBS-Chefin abgegeben hätte (lacht).
In Ihrem Keller bewahren Sie Kassetten mit Songs auf Englisch auf, welche Sie in Ihrer Jugend aufgenommen haben. Wurde davon jemals etwas veröffentlicht?
Um Gottes Willen, nein (lacht). Die kann man ohnehin kaum mehr hören, die Bänder sind so ausgeleiert. Es handelt sich dabei um Fantasietexte, es geht vor allem um die Energie. Von wild bis tieftraurig – bereits der erste Ton verrät, in welcher emotionalen Verfassung ich war. Ich sang über meine Arbeitsstelle, die erste Wohnung, eine unglückliche Liebe, das Leben in Genf, über all die ersten Male in einem Leben als junge Frau.
Songs auf Englisch oder Standarddeutsch waren später kein Thema?
Dies schloss ich schon früh aus. Deutsche Schlager mochte ich nicht singen und mit Englisch wurde ich nicht warm. Das Texten in der Mundart ist vielschichtiger und die Songs haben eine andere Kraft, weil sie in der Muttersprache gesungen sind.
Weshalb nennen Sie sich eigentlich Sina?
Weil ich so ganz gut aus der Sache mit meinem richtigen Vornamen Ursula herauskam (schmunzelt). Ich nutzte die Nähe von Ursula zu Ursina und verwende die Kurzform. Auf Ursula reagiere ich nur noch im Wallis, wenn mich die Familie oder Bekannte aus der Kindergartenzeit so nennen.
Der Weg auf die Bühne war kein Schnellschuss, der Erfolg stellte sich 1994 mit dem ersten Album und dem Hit «Där Sohn vom Pfarrär» aber schlagartig ein. Wie gingen Sie damit um?
Ich bin bodenständig aufgewachsen – Glitzer und Glamour beeindrucken mich seit jeher wenig. Klar war es einmalig, vor 20´000 Menschen und nicht mehr in einem halbleeren Dancing oder einem Festzelt aufzutreten. Ich hatte plötzlich eine eigene Band und arbeitete im Studio mit Polo Hofer und seiner Schmetterband. Das war fast schon surreal. Der Start mit «Sina» und über 70´000 verkauften Alben war fulminant, doch ich dachte nie, dass ich es geschafft hätte. Ich sehe den Erfolg als Teil meines Wegs. Dazu gehören Passion für die Musik, Talent, Hartnäckigkeit, Arbeit und Glück. Der kreative Teil ist wie früher beim Sändele: Der Sandkasten ist leer und du kannst deine Traumschlösser bauen. Mal zerfällt das Ganze, mal wird’s zum kleinen Kunstwerk. Diesen kindlich-kreativen Prozess möchte ich nicht verlieren – daran soll mich auch kein Rollator hindern (lacht).
Sie fressen gerne über den musikalischen Haag. Weshalb?
Ich habe seit jeher Lust am Ausprobieren. Mich interessiert der Weg zu anderer Musik, die Arbeit anderer Musikschaffenden und ihre Herangehensweise an Songs und Themen. Mit meinem Mann zusammen komponierte ich die Eröffnungsfeiermusik der Expo 02 in Murten, sang in Theaterstücken von Sibylle Berg, drehte Filme mit Erika Stucky und machte Aufnahmen mit den bulgarischen Stimmen in Sofia. Solche Erfahrungen haben mich als Künstlerin geformt.
Sie sehen es also als eine Art Weiterbildung?
Genau. So weit wie möglich an die Grenzen des eigenen Universums vorstossen – das interessiert mich. Und mich dabei so wenig wie möglich wiederholen. In Sofia probten wir Songs in einem Zimmer in einem halb zerfallenen Gebäude. Den Sound, den diese bulgarischen Frauen ohne Kraft kreierten, die Energie, die aus ihnen rausströmte, hat mich umgehauen. Ihre unangestrengte Art des Singens mahnt mich bis heute, Energien richtig fliessen zu lassen.
2019 gewannen Sie als erste Frau den «Outstanding Achievement Award» für Ihr Lebenswerk. Was bedeutet das für Sie?
Er fühlt sich an wie eine Pause an einem schönen Sonnenplätzchen während einer Wanderung. Bei einem Stück Walliser Trockenfleisch und einem Glas Fendant geniesse ich den Moment. Der Award ist eine schöne Bestätigung für mich und soll auch junge Frauen motivieren, den Weg auf die Bühne zu wagen. Es gibt genug vielversprechende Künstlerinnen – ihnen gehört die Zukunft.
Sie wurden in der Kindheit von starken Frauen geprägt, von Ihrer Grossmutter und Ihren Tanten.
Dieser Frauenhaushalt war für mich eine Insel und eine sehr gute Schule. Meine Tanten mussten sich als Rebbäuerinnen in einem patriarchalischen Umfeld durchsetzen und bewahrten ihre Eigenständigkeit. Das hat mich sensibilisiert. Auch die Musikbranche ist sehr männlich geprägt, es braucht definitiv mehr Verständnis für dieses Ungleichgewicht an den Schaltstellen von Labels, Festivals und so weiter. Auch Frauen müssen was tun, sie sind zum Beispiel oft zögerlicher, brauchen länger, bis sie bereit sind, etwas öffentlich zu präsentieren. Den Männern liegt es mehr, hinzustehen und die Leute von sich zu überzeugen.
Mit «Mondnacht» treten Sie Anfang Dezember in der Stanzerei auf. Wie gefällt Ihnen Baden?
Zwei Freunde leben in Baden: mein langjähriger Tonmischer und meine Graphikerin. Und da Adrian Stern mein neues Album für das Jahr 2022 produziert, bin ich derzeit regelmässig in Baden. Mir gefällt die Altstadt, zudem bin ich auch privat gerne in der Stanzerei.
Wie wird sich Ihr neues Album gestalten?
Zum ersten Mal kenne ich den Titel, bevor ich die Songs aufgenommen habe: «Ziitsammläri.» Autoren schreiben für mich und mit mir Songtexte mit verschiedenen Blickwinkeln auf die Zeit. Ich freue mich riesig, diese Geschichten in den kommenden Monaten musikalisch einzupacken.
Zum Schluss: Was darf in Ihrer persönlichen Geschichte noch kommen, was fehlt noch?
(zögert). Ich habe ein sehr gutes Gefühl dafür, wenn etwas zu Ende ist, drei Abschiedstourneen wird es bei mir nicht geben. Mir stellt sich weniger die Frage, was noch kommen soll, sondern mehr, was bleiben darf: Die Freude zu entdecken, die Energie und eine musikalische Familie, die sich mit mir weiterentwickelt. Schön, wenn das beim Publikum weiterhin Gehör findet.
Das ganze Interview lesen Sie unter www.landxstadt.ch/aktuelle-ausgabe
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