Kolumne «Armer Ritter» von Simon Libsig
Uff, mal wieder geschafft! Beide Löwen rechtzeitig aus dem Haus, für Schule und Kindergarten, trotz Regen einigermassen motiviert, die Zähne geputzt, die Gummistiefel montiert, die Znüni-Böxli gefüllt. Es ist acht Uhr morgens. Waschmaschine, läuft! Geschirrspühler, läuft! Putzroboter…nein! Dreht sich nervös im Kreis. Hat das Computerkabel eingesogen. Ich schalte ihn mit dem Handy aus. Es klingelt. Meine Frau. Sie hat schon die erste Stunde bei der Arbeit hinter sich, alles gut gegangen, ach ja, zum Mittagessen «Armer Ritter», haben sich die Löwen gewünscht, ich liebe Dich. Ich liebe Dich auch.
Muss weitermachen. Ich scrolle durch den Kalender. Was steht heute noch so an? Workshop am Nachmittag, Auftritt am Abend und…uiuiui, ABGABE KOLUMNE, in Grossbuchstaben eingetragen. Kurzer Anflug von Panik. Ich rufe meine Frau bei der Arbeit an. «Kommt alles gut», sagt sie, «wir schaffen alles.» Ich operiere dem Putzroboter das Kabel aus dem Bauch und schicke ihn husch, husch wieder los. Wir haben alle unseren Job. Da müssen wir durch. Ich denke an die Löwen. Sie brauchen Essen auf dem Tisch. Also muss ich raus, jagen.
Aber wo bitteschön verstecken sich Kolumnen-Ideen? Ich weiss bloss, sie treten meistens nicht im Rudel auf. Man kann sich glücklich schätzen, wenn man im heimischen, undurchdringlichen Gedanken-Dschungel eine einzelne aufspürt. Also los jetzt! Ich schnappe mir einen Schirm und mache mich auf zum Chrättli, Eier und Milch kaufen. Doch schon am Widenweg stutze ich. Was macht diese Katze dort? Sitzt steiff vor dem Gulli-Gitter. Im strömenden Regen. Lächelt sie? Als ich näher komme, höre ich ein Fiepen. Eindeutig eine Maus. Sie hat Angst. Und tatsächlich, die Katze scheint zu lächeln. Ich wedle mit dem Schirm und verscheuche sie. Das Fiepen hört nicht auf. Ich beuge mich über das Gulli-Gitter, zünde mit der Taschenlampe meines Handys, und erschrecke. Unten im Abwasser kämpft eine Maus um ihr Leben. Eine Maus im Hundeschwumm. Schwaddert und fiept und schwaddert und fiept. Ich reisse am Gulli-Gitter, erst mit einer Hand, dann mit beiden, es bewegt sich nicht, klemmt, meine Finger brennen, es bringt nichts, was tun, was tun? Ich mache den Schirm zu und stosse ihn durchs Gitter runter, hänge den Griff an einem Gitterstab ein. Möge die Maus an meinem Schirm hochklettern und ihren nicht zumachen, denke ich, und renne los. Nach Hause. Bitte lebe, lebe! In der Garage reisse ich den Pickel von der Wand und sprinte damit zurück, den Widenweg runter, zum Gulli. Mein Schienbein blutet, werde ich später feststellen. Ich heble und drücke und ziehe und weine, und endlich bringe ich das Gitter weg. Es ist still. Nur der Regen plätschert ins Abwasser. Ich beuge mich tief hinunter, zünde, nichts. Das Mäuschen ist weg.
«Bestimmt konnte es sich retten», sagt meine Frau, als ich ihr zwischen Garderobe und Küche berichte. Ich tunke eine weitere Brotscheibe ins Eiergemisch und bemühe mich, ihr zu glauben. Aber ich wüsste es gern sicher. Ich wüsste gern, ob diese Maus jetzt wieder zurück ist bei ihrer Familie. Ob sie es auch noch rechtzeitig zum Mittagessen geschafft hat. Und ich frage mich, warum ich den Schirm nicht einfach anders herum durchs Gitter gestossen habe. Griff voran. Dann hätte sich die Maus vielleicht auf den Griff setzen und ich hätte sie vorsichtig hochziehen können. Das frage ich mich. Und werde es nie wissen. «Armer Ritter!», rufen die Löwen, als sie ausgehungert reinstürmen, «Armer Ritter!»
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