Kolumne Blattkritik
Es ist wieder Zeit für Entblätterungen. Das Hohelied der Laubbläser erklingt in den heimischen Gärten und an Strassenrändern. Die fest verwurzelten Bäume üben sich im Loslassen. Kurz vor der endgültigen Trennung erblüht die Laubpracht in fast allen Farben des Regenbogens, kurz vor dem Tod strahlen die Extremitäten an den Ästen, als gäbe es einen Diversitäts-Wettbewerb zu gewinnen. Ein Spaziergang der Limmat entlang fühlt sich an, als hätte man sich in ein Gemälde von Bob Ross verirrt. Nur dreidimensional und mit viel Bewegung. Dabei werden die Blätter nur bunt, weil die Bäume ihnen den Saft abdrehen und sie abwerfen wie lästige Angewohnheiten. Ob die schreienden Farben in den Medien auch ein Zeichen für deren baldiges Ende sind?
Das Rauschen durch den medialen Blätterwald folgt so sicher wie der Herbst auf den Sommer. Das Sommerloch, oder wie ich es auch nenne, das Goal der Schweizer Nati, ist damit definitiv vorbei. Wahlen, Kriege, kleine Skandale werden positioniert, geordnet, aufgezeigt. Je nach Perspektive, je nach Art des Blattes sind die Farben der nachgezeichneten Realität geradezu komplementär. Diese Vielfalt ist eine besondere Stärke sowohl in den Medien als auch in der Natur.
Es ist statistisch nachweisbar, je grösser die Biodiversität bei den Pflanzen, desto mehr verschiedene Tierarten können existieren. Je mehr unterschiedliche Lebensräume es gibt, desto reicher ist die Artenvielfalt. Je grösser das Wa(h)lvorkommen im Stände-Meer, desto flächendeckender ist die Aufforstung im Plakat-Wald.
Nun sind sie wieder weg, die Plakate mit den Köpfen. Kandelaber sind enthauptet, nackt wie die Astgerippe der Bäume. Als hätte sich die politische Schweiz dem natürlichen Lauf der Jahreszeit angepasst. Manche sind froh über das Verschwinden der Wahlplakate. Ich aber bedaure es. Nichts symbolisiert so sehr Heimat wie die öffentliche Aufhängung der Kandidierenden für das Parlament. Zuhause ist, wo man die Köpfe auf den Plakaten persönlich kennt. Die wechselnden Häupter zeigen uns die Kantonsgrenzen besser auf als jede Navigations-App. Und sie lassen uns die Grenzen unserer Expertise in Sachen Politikerinnen und Politiker erkennen. Denn Heimat ist dort, wo wir Wurzeln schlagen und Kronen tragen. Dort, wo wir unsere Spuren in Form von bunten Blättern hinterlassen. Verwurzelung gilt allerdings in unserer schnelllebigen Zeit nicht mehr als Qualität. Dabei darf nicht vergessen gehen, dass eine Krone nicht grösser werden kann als das Wurzelwerk. Wer sich also den Hut der Regierenden aufsetzen will, braucht eine stark verwurzelte Basis, Föderalismus ist ein Mischwald, mit dem wir vorsichtig umgehen müssen. Nicht alle alten Bäume sind zu schlagen. Selbst morsches Holz bietet Lebensraum. Manchmal wird es harzig, besonders nach Verletzungen, manchmal muss etwas zurückgebunden oder beschnitten werden und immer wieder zeigt sich der Kreislauf von Werden und Vergehen.
Hier sind sich Politik und Natur besonders ähnlich. Wer eben noch in allen Farben gestrahlt hat, droht in Bälde sich kahl und langweilig einzureihen neben den anderen grau erscheinenden Stämmen. Kaum sind die Gewählten im Amt, platzt oft der Lack und man sieht die Farbschicht abblättern wie bei einem alten Gemälde von Bob Ross. Und vielleicht ist das gar nicht schlecht. Das Abblättern ist nötig, um Neues entstehen zu lassen. Nur so kann die schwache Wintersonne bis auf den Boden dringen.
Neue Blätter werden kommen. Neue Plakate werden aufgehängt. Die Palette wird neu gemischt und es werden Bilder in den schreiendsten Farben entstehen. Da wäre es wünschenswert, wenn wenigstens der Laubbläser in Zukunft schweigt.
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