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Ueli: Kolumne von Simon Libsig



Im ersten Moment dachte ich, das sei Vogel-Kot. Es klatschte richtig auf meine Frontscheibe. Ich erschrak sogar ein wenig. Mit den Gedanken schon bei der Arbeit, rollte ich aus der Garage, an der wilden Wiese des Nachbarn vorbei, platsch! Aber es war kein Vogel-Kot. Es war grün, und es starrte mich an. Ja. Wir machten beide grosse Augen. Es war ein Grashüpfer. Und er drückte sich richtig gegen die Scheibe. Schien sich festzuhalten.


Mit seinen Ärmchen und Beinchen. Süsser kleiner Kerl. Mutig, mutig. Leider iegt er bei der ersten Kurve weg, oder wenn ich dann beschleunigen muss. Der Fahrtwind wird ihn fortblasen. Dachte ich. Aber was macht der Grashüpfer? Ich bin schon im vierten Gang, da krabbelt er die Scheibe sogar noch weiter hoch. Auf Augenhöhe. Ich fasse es nicht. Grinst der jetzt sogar noch? Glatte Chaib! Als würde er die Fahrt geniessen. Dabei ist er schon

kilometerweit weg von seinem Zuhause. Der ndet den Weg doch nie mehr zurück. Hat doch bestimmt auch Familie. Ich hupe. Beginne mit dem Tier zu reden. «Jetzt kannst du es noch schaffen, spring ab, Kleiner, spring ab.» Keine Reaktion. Und dort vorne ist bereits die Autobahneinfahrt.


Im Gubrist war zum Glück Stau. Da konnte sich mein Freund ein wenig erholen. Kraft tanken. Jawohl, ich nannte ihn da bereits meinen Freund. Und ich hatte die grösste Hochachtung vor ihm. Was dieses Tier da leistete, das war übermenschlich. Die Kräfte, die da an ihm reissen und zerren mussten, der Druck. Brutal. Aber er gab nicht auf. Klammerte sich richtig fest. Ans Leben. Dieser Grashüpfer war mein Held. Ich knicke schon bei einem

Schnupfen ein. Und dieser grüne Winzling meistert gerade den ultimativen Höllenritt. Jeder Rodeo-Cowboy würde vor Neid erblassen. Was für ein Teufelskerl.


Vielleicht war er ja auch eine sie? Ich hatte mir noch nie Gedanken darüber gemacht, wie man einen männlichen von einem weiblichen Grashüpfer unterscheidet. Ganz generell, hatte ich mir noch nie Gedanken über Grashüpfer gemacht. Es war überhaupt das erste Mal, dass ich einen Grashüpfer länger als ein paar Sekunden

betrachtete. Von meiner Handäche waren die immer schleunigst wieder weggehüpft, als ich noch ein Kind war.

«Ueli». Jawohl. Ich beschloss für mich, dass das jetzt der Ueli war. Und ich drehte die Musik etwas lauter, denn es lief gerade «Eye Of The Tiger», der Rocky-Soundtrack, und beide sangen wir mit.


Als ich auf den Firmenparkplatz einbog, wusste Ueli schon über mein halbes Leben Bescheid. Ich hatte ihm von meiner Frau und den Kindern erzählt, und von meiner Sorge über die Weltlage. Und er hatte verständnisvoll genickt. Ich mochte Ueli. Er war mir auf dieser gemeinsamen Fahrt richtig ans Herz gewachsen. «Wenn du willst», sagte ich, als ich den Motor abstellte, «dann nehme ich dich auch wieder zurück.» Und ich hoffte innständig,

dass er noch da sein würde, wenn ich nach der Arbeit zurückkomme. Dass er warten würde, auf meiner Frontscheibe. «Ich mach so schnell ich kann», sagte ich. Und dann kam ich beim Aussteigen ausversehen mit dem Knie an den Schalter für den Scheibenwischer.


Die Kolumne ist im LANDxSTADT 1/2022 erschienen.

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