«Wir betäuben uns»
Autorin Anna Miller (36) schrieb mit «Verbunden» einen Ratgeber für digitale Achtsamkeit. Im Interview erklärt sie, weshalb wir oft online sind, warum es uns schadet, und sie erklärt, was wir dagegen unternehmen können.
Einst war das Handy nur ein Telefon. Was ist es heute?
Anna Miller: Ein Fluch und ein Segen zugleich. Einerseits erleichtert es uns sehr vieles, andererseits verwenden wir viel Zeit und Energie mit Dingen, die sich negativ auf unser Leben auswirken. Die Macher im Silicon Valley schaffen es mit ausgeklügelten Techniken, dass wir obsessiv viel Zeit auf Social Media verbringen. Wir haben viele digitale Pendenzen, befinden uns in der physischen Welt und gleichzeitig anderswo. Das führt zu digitalem Stress und schadet der Gesundheit.
Laut Studien ist der Mensch während 40 Prozent seiner Wachzeit online. Warum schadet uns das?
Weil wir pro Minute sehr viel digitalen Input in uns aufnehmen, wir saugen die Informationen auf. Wenn ich am Morgen, bevor ich aufstehe, sieben E-Mails beantworte, meine traurige Freundin auf Instagram aufmuntere und zwei News über den Krieg in der Ukraine lese, macht das etwas mit meinem Körper. Digitale Pendenzen lassen sich in jeder Ritze des Alltags abarbeiten, zum Beispiel während den zwei Minuten, wenn ich auf den Bus warte. Diese Überreizung führt mittel- und langfristig zu Stresssymptomen.
Warum tun wir uns das an?
Weil es keine Normen, Regeln und Gesetze gibt, die uns sagen, wann es zu viel ist. Es ist wie früher, als alle geraucht haben. Spiegelneuronen in unserem Gehirn sorgen dafür, dass wir das Verhalten von anderen kopieren und uns anpassen. Die digitale Präsenz hat dabei die Qualität, unseren Gemütszustand aufzuputschen und unerwünschte Gefühle wegzudrücken. Wir betäuben uns.
Wie kommen wir da wieder raus? Mit dem Buch «Verbunden» haben Sie kürzlich einen Ratgeber für digitale Balance veröffentlicht.
Einerseits liegt es an Politik und Wirtschaft, Regeln für die digitale Präsenz im Beruf festzusetzen. Andererseits sollte sich jeder Einzelne mehr Räume schaffen und körperlich aktiver werden. Es ist wie bei einer Diät. Wenn ich auf den Schoggikuchen verzichten muss, will ich etwas anderes essen, das auch fein, aber gesünder ist. Wenn ich etwas mit Freude und Energie mache, hat das Handy eine weniger starke Sogkraft. Gönnen Sie sich also mehr Realzeit, weniger Bildschirmzeit. Schaffen Sie Platz fürs Erschaffen von Erinnerungen.
Autorin Teresa Bücker meinte in einem Interview mit Ihnen, dass der Mensch zu wenig Zeit für die
Erholung habe und deshalb auf digitale Medien setze, weil es wenig Energie koste.
Absolut richtig. Wenn ich erschöpft nach Hause in die Wohnung komme, setze ich mich zuerst mal aufs Sofa, gehe online. Aus zehn Minuten werden dann schnell zwei Stunden. Es geht darum, negative Routinen aufzubrechen und sie mit positiven zu ersetzen. Helfen kann, wenn ich beispielsweise den Wecker stelle, um ein Bewusstsein für meine Zeit in den sozialen Medien zu erhalten. Oder ich verschiebe mein Hobby in die Morgenstunden.
Werde ich nicht zum Aussenseiter, wenn ich zu lange offline bin?
Viele Menschen haben tatsächlich grosse Angst, dass es soziale Konsequenzen hat, wenn sie nicht erreichbar sind, oder dass sie etwas verpassen. Suchen Sie das Gespräch mit Partnerin, Chef und Freunden, erläutern Sie, wann Sie da sind und wann wirklich weg. Ich muss nicht immer online sein, um als pflichtbewusster Mensch zu gelten. Legen Sie das Smartphone in einen anderen Raum, schaffen Sie physische Distanz. Drehen Sie es beispielsweise auf laut, um Notfallanrufe nicht zu verpassen.
Haben Sie weitere Tipps, wie Menschen Ihre digitale Aufmerksamkeit schulen können?
Machen Sie einen digitalen Frühjahrsputz, mit Ihren Apps, Push-Nachrichten und Social-Media-Kanälen. Was kostet zu viel Zeit und Energie und darf weg? Gönnen Sie sich im Alltag digitale Auszeiten. Fahrrad-Tour mit der Familie? Lasst alle das Handy zuhause. Lunch im Park mit der Freundin? Schaltet den Flugmodus ein. Echte Verbundenheit entsteht über echte Präsenz. Und: Tun Sie das, was Ihnen wichtig ist, immer zuerst. Denn unser Gehirn schaltet einfacher von Fokus auf Freizeit als umgekehrt. Das heisst: Zuerst die Fokus-Arbeit, dann die Social-Media-Einheit. Zuerst Joggen im Park, dann Netflix. Das Internet schläft nie. Und kann deshalb auch mal warten.
Das Buch kann wie folgt bestellt werden:
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